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Identität und Religion
(Dr. Sigrid Hunke)

„Jedes Seiende“ ― so hatte Nikolaus Cusanus das Wesen der Selbstidentität bezeichnet,  „ist nur in seinem eigenen Sein ganz selbst.“ Als Folge von Zerstörung und Verlust der Selbstidentität hatte er klar die ›Uneigentlichkeit‹ der Existenz erkannt: „In jedem ande-
ren kann es sich nur uneigentlich repräsentieren.“
Denn, so fügt er hinzu, „die nichtüber-
tragbare Identität“
auf jemand anders übertragen, geschieht unweigerlich „um den Preis des Andersseins“.
Damit ist das Los des europäischen Menschen während mehr als einem Jahrtausend in wenigen Worten umrissen.
Europa hatte das Schicksal, in einem Glauben leben zu müssen, der nicht der seine war und seinem Wesen, Erleben, Fühlen, Denken nicht entsprach, der ›sein eigenes Sein‹ vergewaltigte, sein Bewußtsein durch dualistische Zerreißung alles dessen, was hier und
für viele blieb, umformte und durch Setzung fremder ihm widerstreitender Wertakzente umpolte und damit den inneren Kompaß, die nachtwandlerische Sicherheit im Beschreiten des ›rechten Weges‹ zerstörte. Denn Verlust der eigenen Religion als eines ganzheitlichen Seinsbezuges bedeutet Gesamtverlust der eigenen Identität.
Indem das Volk in einem schmerzhaften Umerziehungsprozeß, der Jahrhunderte in Anspruch nahm, unter den Opfern seiner Eigentlichkeit mehr oder weniger zu Christen gemäß dem ihm gepredigten Selbstverständnis des schwachen, der Gnade Gottes und der Erlösung durch den Tod seines Sohnes bedürftigen Sünders wurde, wehrten sich die mutigsten, eigenständigen und schöpferischen Geister gegen die Zumutungen des frem-
den Glaubens und entzündeten in der Reibung durch Widerspruch die Flamme ihrer eige-
nen, aus innerster Wesensnotwendigkeit aufsteigenden religiösen Überzeugung. Unge-
zählte Tausende nahmen ohne Rücksicht auf sich selbst die gigantische Herausforderung auf, welche die Entwürdigung und Verkrüppelung ihres Menschseins und des ihnen Heilig-
sten an ihren Mut und ihr schöpferisches Denken stellte. Waren es anfangs nur einzelne Große, von deren Geist sich eine nicht abreißende Spur bis in die Gegenwart zieht ― von Pelagius bis Storm, Hebbel, Rilke und weiter, von Eriugena und Giordano Bruno über
Goethe bis Teilhard de Chardin und Saint-Exupéry, von Meister Eckhart und Nikolaus Cusanus über Jakob Böhme bis Heidegger und Jaspers –, so wächst ihre Zahl beständig und ist in der Gegenwart in ungebrochener Kontinuität zu einer sich weit ausbreitenden, alle europäischen Nationen, alle gesellschaftlichen Schichten und alle Generationen über-
greifenden religiösen Gemeinsamkeit erstarkt. Was konnte schlagender die religiöse Identität Europas ausweisen als die spontanen Proteste und selbständigen Entgegen-
setzungen seiner Ketzer als Urheber eigener religiöser Schöpfungen mit eigener Perspek-
tive und ihre immer wieder staunenerregenden Übereinstimmungen untereinander über Jahrhunderte und über alle nationalen Grenzen hinweg ― Übereinstimmungen, die oft unabhängig voneinander und ohne voneinander zu wissen, allein der ihnen gemeinsamen, ureigenen Erlebensweise, der immer gleichen Gotteserfahrung, demselben Wesensgesetz
in der eigenen Brust entstammten?
In seinen Tausenden von Ketzern kam Europa immer erneut und aus seinem Urgrund erneut zu sich selbst, wurde es sich in seinen größten Geistern seiner selbst, seines We-
sens und seiner eigenen göttlichen Tiefe bewußt in einer eigenen europäischen Religion, die über das sich seinem Untergang zuneigende Zeitalter der Selbstentfremdung hinweg tragende Kräfte entfalten wird.


„Jedes kann nur wahrhaft ‚sein‘, sofern Gott in ihm sein Sein ausmacht“

Die Nur-Protestierenden freilich, die den Mut zum eigenen Selbst und die Kraft zum eigen-
ständigen Weg abseits der ausgetretenen ideologischen Straßen nicht aufbrachten, sie warfen mit dem von Nietzsche diagnostizierten
„unglaubwürdig gewordenen Glauben an den christlichen Gott“ jeden Glauben über Bord, fegten mit dem christlichen ›Jenseits‹ jegliche ›Transzendenz‹, das heißt jedes ‚Überschreiten‘ der vordergründigen Dingwelt
des den Sinnen und dem Verstand Gegebenen davon. Indem sie jede Bindung zerrissen,
ihre eigenen Wurzeln abschnitten und sich somit aller Quellen ihrer Kraft begaben, haben sie sich als Entwurzelte, Unbehauste selbst den von Nietzsche vorhergesagten Schrecken des totalen Nihilismus ausgeliefert mit allen Ängsten und Verzweiflungen in letzter Sinnleere und Verlorenheit ihres verödeten Daseins, das nach Untergang, Ende, Totsein süchtig ist. Die christliche Entwürdigung und Entheiligung des Menschen, der Welt, der Natur hat in diesen Protestierern gegen den christlichen Gott, in diesen Aussteigern aus dem Sinn, in diesen Emigranten aus der Heillosigkeit des Diesseits ― das nach dem Kappen des ›Jenseits‹ ein ›Diesseits‹ des Nicht-Seienden ist und ›vom Nichts umdroht‹ ihre letzten Opfer zugerichtet. Ihre Preisgabe aller Transzendenz rächt sich an ihnen mit dem Verlust des Seins.
Denn sie haben in ihrer Radikalität das Wesentliche für eine heile Identität selbst zer-
stört, das ihnen Antoine de Saint-Exupéry mit dem Gebet des Großen Kaid in der Stadt
der Wüste in Erinnerung ruft, das hier aber auch für jene stehen mag, die auf dem Weg
zu ihrer wahren religiösen Identität sind:

„Verbinde mich wieder dem Baum, von dem ich stamme!
Ich bin ohne Sinn, wenn ich allein bleibe
Hier bin ich aufgelöst und vorläufig.
Ich trage Verlangen zu sein.“


(Aus: Sigrid Hunke: Kampf um Europas  religiöse Identität in: Pierre Krebs (Hg.): Mut zur Identität. Alternativen zum Prinzip der Gleichheit II, 1988)
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