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Die weltbewegende Kraft der Ideen
(Prof. Dr. Pierre Vial)
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Marx ohne Lenin,
das wäre ein Fahrzeug ohne Antrieb gewesen, denn die Ideologie
braucht immer eine Strategie zu ihrer Verwirklichung.
Unsere Weltanschauung (diejenige der organischen Intellektuellen)
gründet in den unterschiedlichen Lebenserscheinungen,
vertritt also die Ethnopolitik;
ihre Strategie hejßt folgerichtig Metapolitik. Das bedeutet aber:
Einen kulturellen Krieg führen (und gewinnen), um eine Umwälzung
der käuflichen Werte und ihrer Dekadenzpolitik herbeizuführen.

Die soziologische Rechte ist gekennzeichnet durch ein fast schon angeborenes Mißtrauen gegen die Ideen. Man nimmt sich vor den Ideen in Acht, denn sie verpflichten den Erken-
nenden ja zur Tat, sie zwingen zur Klarheit und zum Mut. Die bequeme Rechte mag so etwas nicht; die kämpferische übrigens ebensowenig, da sie den Ideenkampf als verlorene Zeit betrachtet und keine Gelegenheit versäumt, jenes selbstgefällige Zerrbild hervor-
zukehren, das sie gerne von sich gibt, dem sie ihr Dasein als verlorenes Häuflein verdankt. Die Welt wird jedoch von Ideen verändert; zumindest von denjenigen, die eine mythische Verankerung erhielten und von Denkern getragen werden, die zugleich Kämpfer und Gesandte zu sein vermögen (übrigens kann man meines Erachtens keine bessere Kenn-
zeichnung des Revolutionärs geben). Eine der größten Lehren der Geschichte ist diese:
Man muß zunächst die Idee säen, um dann aus Taten ernten zu können. Die Idee ist vor-
rangig. Wer das vergißt, ist entweder zu einem sich überschlagenden, der Lächerlichkeit preisgegebenen, ziel- und zukunftslosen Aktivismus verurteilt oder zu einem abstumpfen-
den, auf den Katzenpfoten kleiner Reformen daherschleichenden Nützlichkeitsdenken,
das die Seelen schon deshalb nicht zu bewegen vermag, weil es auf einen rein materiellen und verwaltenden Erwartungshorizont beschränkt ist.
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Wer über Ideen spöttelt oder an ihrer Wirkkraft zweifelt, sollte folgendes bedenken: Mit ihrer ›großen Weisheit‹ erkannte die Kirche (zu einer Zeit, da sie erst eine unbedeutende Gemeinschaft innerhalb des Römischen Reiches bildete), daß sie zunächst die Köpfe für sich gewinnen mußte, um eines Tages die gesamte Gesellschaft in die Hand zu bekommen und sie nach ihren Auffassungen gestalten zu können. Die Kirche war sich des ausschlaggebenden Ein-
flusses der Ideen dermaßen bewußt, daß sie sich für tausend Jahre die ausschließliche Vorherrschaft im geistigen Leben sicherte.
„In der Geistesgeschichte des mittelalterlichen Europas“, schreibt der Historiker Jacques Paul, „gibt es nichts Grundlegenderes als das zwischen Kirche und Kultur geschlossene Bündnis.“ Links: Paulus’ Reiseweg.
Die großen Umwälzungen der Geschichte wurden von Intellektuellen vorbereitet, d.h. von Menschen, die sich berufen fühlten, zu denken und dieses Denken auch zu verbrei-
ten, die eigene Gedankenwelt und ihre Verbreitung galten ihnen als selbstverständlich.
„Ohne Marx kein Lenin“, ist mithin eine logische Aussage, und wir warfen danach einmal leichthin in die Auseinandersetzung, daß unsere Denkschule eine Art kollektiver Marx sein will. Solch ein launiger Einfall legt sehr häufig auf einfache Art den Kern eines Gedankens frei. Es erübrigt sich demnach, besonders zu betonen, daß unsere Aufgabe im Bereich der Ideen liegt wohlverstanden als Grundlage der daraus folgenden Tat.
Wer über Ideen spöttelt oder an ihrer Wirkkraft zweifelt, sollte folgendes bedenken:
Mit ihrer ›großen Weisheit‹ erkannte die Kirche (zu einer Zeit, da sie erst eine unbedeu-
tende Gemeinschaft innerhalb des Römischen Reiches bildete), daß sie zunächst die
Köpfe fur sich gewinnen müßte, um eines Tages die gesamte Gesellschaft in die Hand zu bekommen und sie nach ihren Auffassungen gestalten zu können. Dies setzte das Erarbei-
ten einer Lehre voraus, die, an der jüdischen Herkunft des Christentums festhaltend, auf
einige wesentliche Ideen des ausgehenden Hellenismus zurückgreifen mußte.
„Mit der griechisch-römischen Kultur konfrontiert, war das Christentum bemüht, einige ihrer
Werte zu assimilieren, indem es sie übernahm und umdachte.“
(2) Paulus ist der Begrün-
der dieses Lehrgebäudes, in dem die Evangelienbotschaft sowie ein durch den Gnosti-
zismus und die Mysterienkulte geprägter Hellenismus zusammenlaufen, wie es Guignebert (2), Loisy (3) und Bultmann (4) aufzeigten.
„Um die Heiden für das Evangelium zu gewinnen, wollte Paulus es ihnen in Worten darlegen, die ihnen vertraut waren.“ (5) Seinem Beispiel folgten Klemens von Alexandrien und Origenes. Diese Intellektuellen, die im 4. Jahrhundert von Augustinus, Basilius, Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa abgelöst wurden, verhalfen der Kirche dazu, ihren Einfluß derart auszubauen, daß sie
eine echte Kulturrevolution einleiten konnte; diese wiederum war für sie das Mittel, von der politischen Macht anerkannt zu werden, bevor sie jene selbst übernahm bzw. unter
ihre moralische Vormundschaft stellte.
Die Kirche war sich des ausschlaggebenden Einflusses der Ideen dermaßen bewußt, daß sie sich für tausend Jahre die ausschließliche Vorherrschaft im geistigen Leben sicherte. „Im Mittelalter bezeichnete das französische Wort clerc (›Kleriker‹) sowohl den Gelehr-
ten als auch den Laien, der durch die Tonsur in den Klerus aufgenommen wurde. Bis zum 16. Jahrhundert war laicus mit illiteratus gleichbedeutend .“
(7) Unverkennbar bricht
hier der große Unterschied zum Altertum auf, wo griechische Denker und lateinische Schriftsteller von jeglicher religiöser Bevormundung durch den Klerus befreit waren: das Denken als Werk der inneren Wahrnehmung betrieben freie Bürger, die keine anderen Leitlinien und Vorschriften hatten als ihre eigenen Überzeugungen.
Die Kirche erkannte, daß ihr Wille zur geistigen Vorherrschaft die strenge Kontrolle des gesamten geistigen Lebens verlangte. „In der Geistesgeschichte des mittelalterlichen Europas“, schreibt der Historiker Jacques Paul, „gibt es nichts Grundlegenderes als das zwischen Kirche und Kultur geschlossene Bündnis.“ Er fügt hinzu: „Im Bereich des Wissens, so wie es an den Schulen und Universitäten vermittelt wird, setzt die Kirche unnachgiebig ihren Glauben und ihre Dogmen durch. Diese nahezu allgemein als wahr hingenommenen religiösen Behauptungen wollen den Eindruck erwecken, als seien sie die Voraussetzung allen Denkens (...) Der christliche Glaube ruft Anschauungen hervor, die sich jeder geistigen Leistung zu bemächtigen suchen (...) Tatsächlich ist dies aber nur möglich,
weil eine Verschmelzung vorgefundener heidnischer Denkweisen mit den fremdartigen Geistesinhalten vollzogen werden kann, so daß sich beide Ideen verändern - dabei diese geschönt, jene aber bis zur Unkenntlichkeit entstellt wird.„
(7) Die von der griechisch-römischen Tradition übernommene klassische Kultur darf nach dieser Ansicht nichts ande-
res sein als ein Werkzeug im Dienst des angepaßten, vereinheitlichten Denkens. Kommt irgendein Geistlicher in Versuchung, sich von den Reizen des antiken Denkens verführen zu lassen, so wird er schleunigst zur Ordnung gerufen, denn hinter der klassischen Literatur verbirgt sich das Heidentum. So geißelt Papst Gregor der Große im 6. Jahrhundert den Bischof Didier von Vienne:
„Im selben Mund dürfen sich nicht die Lobpreisung Jesu Christi und die Jupiters vereinigen. Verse vorzusingen, die sich nicht einmal für einen frommen Laien ziemen, ist im Falle eines Bischofs eine schlimme, verbrecherische Tat.“
In der Dreiteilung der Tätigkeitsbereiche, die der Bischof Adalbéron von Laon um 1020 als die ideale Gesellschaftsform bezeichnet, kommt den Klerikern, den oratores, der erste Aufgabenbereich vor den bellatores und den laboratores zu, die den zweiten und dritten verkörpern ― eine weitere Bestätigung dafür, daß diejenigen, die denken (und das meint denn eben auch: beten), die Oberhoheit besitzen,ja: besitzen müssen. Die päpstliche Theokratie führte diese Logik folgerichtig weiter, indem sie der weltlichen Macht der Monarchen ― die Kaiser inbegriffen ― das Recht und sogar die Fähigkeit zur Selbst-
bestimmung absprach.
Doch schon im 12. Jahrhundert zeichnet sich, vornehmlich in Paris, eine Bewegung geistiger Befreiung ab. Umherziehende Kleriker und Scholaren, ›Goliarden‹ genannt, sprengen die Fesseln, die dem geistigen Leben angelegt wurden. Die mönchischen Kreise, die jahrhundertelang eifrig das ausschließliche Vorrecht auf geistige Betätigung für sich beansprucht hatten, verurteilen denn auch die Meinungs- und Redefreiheit der Goliarden. Der ›heilige‹ Bernhard richtet an die unter goliardischem Einfluß stehenden Pariser Profes-
soren und Studenten die bezeichnende Mahnung:
„Flieht aus dem babylonischen Milieu, flieht und rettet eure Seelen!“ Peter Abaelard, in dem Jacques Le Goff „die erste große Verkörperung des modernen Intellektuellen“ (8) sieht, symbolisiert durch sein Leben und Werk die Freiheitsbewegung, die den geistigen Alleinvertretungsanspruch der Kirche
brach. Dieser ›Erwecker der Ideen‹ ist somit ein Vorbote des Renaissancemenschen. Vom Haß Bernhards von Clairvaux besiegt, triumphierte Peter Abaelard dreihundert Jahre
später in den Werken Vallas, Galileis und Kopernikus’ ― all derer, die
„für jenen Welt-
frühling sorgten, durch den der Mensch selbst zum Schmied seines Schicksals wurde,
indem er die Bedingtheiten seiner Natur durch die Kraft des Willens und die Macht des Geistes von sich warf.“
(9) Es darf also durchaus davon gesprochen werden, daß im Mittel-
alter eine Art ›Widerstandsbewegung‹ von Intellektuellen unter ständiger Gefahr für Frei-
heit und Leben ihrer Träger bestanden hat, die aus dem natürlichen Drang nach Sprengung der dem heidnischen Bewußtsein mit der Christianisierung angelegten Fesseln hervorging. Zwar war dies ein nur vereinzelter, unsteter Widerstand von unterschiedlicher Stärke und vorerst nur geringem Erfolg, aber doch stets in unverkennbarem Bezug auf das, was Sigrid Hunke
Europas andere Religion nennt. (10)
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